Grunow und Johannes Itten


Der Harmonisierungsunterricht Grunows war mit der Vorlehre Johannes Ittens verbunden. Dementsprechend betonte auch Lothar Schreyer in seinen Erinnerungen, dass Itten in »enger Fühlung« mit Grunow zusammengearbeitet habe (Schreyer 1956: 186). Paul Klees Beschreibung Grunows als »Schutzengel Ittens« im Jahr 1922 fügt sich in diese Aussage (F. Klee 1979: 971). Itten selbst hielt sich mit seiner Wertschätzung jedoch zunächst zurück.

In einem Brief an den österreichischen Zwölfton-Komponisten und Musiktheoretiker Josef Matthias Hauer (1883–1959) schrieb er am 5. November 1919, dass »ein gewisses Fräulein Grunow aus Berlin« bei ihm vorstellig geworden sei und einen Vortrag über die »Erziehung des Menschen durch Auge und Ohr« halten wollte. Er betonte weiterhin, dass er zunächst »skeptisch« gewesen sei, aber sich »[n]ach langem Hin und Her entschloß […] [seine] Schüler zu ermuntern, bei ihr einen Kurs zu machen«. Weiter heißt es:

»Ich gehe selbst zu ihr und finde einiges sehr gut; obwohl ihre Theorien richtig sind, kann ich noch nichts beurteilen. […] Die Dame hat ein gutes Urteil, aber ich glaube, daß vieles falsch ist, was sie tut, und ich werde ihr scharf auf die Finger sehen. Ich hoffe nur, daß sie die Schüler so hören lehrt, daß sie den Boden vorbereitet finden.« (A. Itten/Rotzler 1972: 67)

Der Brief gibt einen Hinweis darauf, warum Itten sich gegenüber Hauer in dieser vorsichtig-abwägenden Weise äußerte: »Es ist so schade, daß Sie nicht jetzt hier sind«, heißt es darin (ebd.: 67f.). Itten hatte erfolglos versucht, Hauer für das Bauhaus zu gewinnen und hätte zu diesem Zeitpunkt wohl die Zusammenarbeit mit ihm bevorzugt (vgl. Tavel 1994: 42).

Auch Hauer hatte einen Klang-Farb-Kreis entwickelt, dessen Zuordnungen von denen Grunows völlig verschieden sind. Itten und Hauer haben sich ebenfalls wohl erst 1919 persönlich kennengelernt (Streit 2015: 29). Entweder wollte Itten Hauer nicht vergrämen, indem er Grunows Lehre als großen Gewinn für das Bauhaus darstellte oder aber er wurde erst später von ihr überzeugt. Schließlich avancierte Grunow dann doch zu einer wichtigen Wegbegleiterin und Kollegin. In Ittens nicht genauer datiertem autobiographischen Text »Jugend- und Studienjahre« formulierte er rückblickend, dass Grunow eine der wenigen Personen gewesen sei, die ihn verstanden habe:

»Dann waren es die Gleichgewichtswirkungen der Farben, ihre Mengenverhältnisse und Sättigungsgrade zum Harmonieproblem in Beziehung gesetzt und einiges andere, was mich beschäftigte. Ist es da ein Wunder, daß ich Jahre später entsprechende Bildversuche von Malewitsch, Kandinsky und Klee als wichtigtuerisch aufgemachte und zum Teil völlig falsch beurteilte Versuche ablehnte? Alles Geschmäcklerische war mir zu der Zeit ein Greuel. Ich hatte dazu innerlich das Recht, äußerlich vielleicht nicht, weil ich diese Versuche verbrannt habe – leider. Hölzel, der Kerkovius und Fräulein Grunow haben diese Versuche gesehen. Nur mit Gertrud Grunow habe ich darüber gesprochen, denn sie war eine sehr sensible, hellsichtige und ehrliche Person.« (A. Itten/Rotzler 1972: 28)

Insofern räumte Itten Grunow eine Sonderrolle ein.

Johannes Itten, ohne Titel (mit Widmung: Frl. Gertrud Grunow / in herzl. Freundschaft März 1923 / Johannes Itten), 1924, Pastell, 29,3 × 36,4 cm,
© Sammlung Freese.

 

1923 hatte Itten Grunow zu seinem Abschied vom Bauhaus außerdem ein kleines Pastell geschenkt, das folgende Widmung beinhaltet: »Frl. Gertrud Grunow / in herzl. Freundschaft März 1923 / Johannes Itten«.

 

Das Bild ist durch einen starken Kontrast von hellen und dunklen Tönen geprägt, wobei die >Grunow-Farben< Grau und Braun auffallen, die sonst für Ittens Werk sowie am Bauhaus eher untypisch sind. Weiterhin ist das Blatt durch den Eindruck der Formauflösung, der Mehrdimensionalität und Überlagerung geprägt: Die Farbformen scheinen im Raum dynamisiert und aufgelöst zu werden, was zu Grunows Konzept der Farbe als innerem Licht und als Atmosphäre gut passt.

 

 

 


Itten und Grunow standen auch über das Bauhaus hinaus in Kontakt. Ob ab 1926 in Berlin, wo Itten gerade seine eigene Schule gegründet hatte (Streit 2015), allerdings ein intensiver Austausch stattfand, ist nicht überliefert. Im Nachlass von Erich Parnitzke befindet sich der Abschrieb einer Postkarte, auf der Grunow am 23. Oktober 1937 berichtet: »Ich bin momentan in Leverkusen, fahre dann nach Düsseldorf, wo mich Itten in seinem Auto für 1 Tag nach Krefeld holen will« (Nachlass E. Parnitzke). Aus Material, das dem Kunsthistoriker Cornelius Steckner vorliegt, wird wohl evident, dass beide auch in den Jahren nach dem Bauhaus brieflich Kontakt hatten, wenngleich eher unregelmäßig (Steckner 2010: 57, 70, 85f.).

 

Unklar ist, ob Grunow am Bauhaus Ittens Mazdaznan-Zirkel angehörte. Die Überlieferungen sprechen für ein grundlegendes Interesse, aber gegen eine enge Bindung an die Doktrin (vgl. dazu Schreyer in Keith Smith 2006: 206–210). Sie folgte Itten schließlich auch nicht in die Schweizer Mazdaznan-Gemeinschaft ›Aryana‹, sondern wählte einen eigenen Weg.

Mazdaznan ist eine spirituelle Gesundheits- und Lebenslehre, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA auf Basis verschiedener Heilslehren begründet wurde und 1907 durch David Ammann einen deutschen Zweig erhielt. Unter dem übergeordneten Ziel, Zugang zum Göttlichen zu erhalten, basierte die Doktrin auf der Herstellung körperlicher, psychischer und geistig-spiritueller Vollkommenheit, unterstützt durch Ernährung, Atmung und andere Praktiken. Viele dieser Elemente integrierte Itten in den eigenen Unterricht (Burchert 2019a, Streit 2015, Linse 2001).

Parallelen zwischen Grunows und Ittens pädagogischem Ansatz gibt es viele, sodass Harmonierungs- und Vorlehre tatsächlich ineinandergriffen. Itten hatte gymnastische und rhythmische Bewegungen sowie Atemübungen in seinem Unterricht zum Ausgangspunkt gemacht, und betrachtete den Einklang von Körper, Psyche und Geist als Voraussetzung für die ›gute‹ künstlerische Praxis (Burchert 2019b): Dies galt nicht nur am Bauhaus, sondern auch an seiner 1926 in Berlin gegründeten, eigenen Schule, wie er 1930 im Aufsatz »Pädagogische Fragmente einer Formenlehre« schreibt:

»Zur direkten Entwicklung der intellektuellen, seelischen und körperlichen Funktionen habe ich an meiner Schule die Morgenübungen angesetzt – Entspannungs-, Konzentrations-, Atem- und Ton-Übungen –, die allein eine wahre, naturechte und geistgerichtete Erziehung des totalen Menschen gewährleisten.« (A. Itten/Rotzler 1972: 234)

 

Grunow und Itten sind insofern in den breiten Kontext der Reformpädagogik sowie der Körperkultur einzuordnen und waren durch ähnliche, aber keinesfalls identische Ansätze verbunden. Reform-Konzepte waren für Walter Gropius Konzeption der Lehre am frühen Bauhaus ebenfalls zentral. 

 

 

Linn Burchert, Nov. 2018


Literaturangaben:

Burchert 2019a: Linn Burchert, »The Spiritual Enhancement of the Body: Johannes Itten, Gertrud Grunow, and Mazdaznan at the Early Bauhaus«, in: Elizabeth Otto/Patrick Roessler (Hg.), Bauhaus Bodies: Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, London 2019 (in Vorbereitung der Drucklegung).

Burchert 2019b: Linn Burchert, Das Bild als Lebensraum. Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910–1960, Bielefeld 2019 (in Vorbereitung der Drucklegung). [verwiesen wird hier auf das Kapitel 5.4. »Lebensatem einflößen: Produktionstheorien bei Johannes Itten, František Kupka und Yves Klein«]

A. Itten/Rotzler 1972: Anneliese Itten/Willy Rotzler (Hg.), Johannes Itten. Werke und Schriften, Zürich 1972.

Keith-Smith 2006: Brian Keith-Smith, Lothar Schreyer. Persönliches: Dokumente und Briefe, Newiston/New York 2006.

F. Klee: Felix Klee (Hg.), Paul Klee: Briefe an die Familie, Bd. 2, 1907–1940, Köln 1979.

Linse 2001: Ulrich Linse, »Mazdaznan – die Rassenreligion vom arischen Friedensreich«, in: Stefanie v. Schnurbein/Justus H. Ulbrich (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ›arteigener‹ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 268–291.

Nachlass E. Parnitzke: Archiv der Bauhausuniversität Weimar (unbearbeitetes Konvolut).

Schreyer 1956: Lothar Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1956.

Steckner 2010: Cornelius Steckner, »Gertrud Grunow (1870–1944): Eine Biografie in Dokumenten«, 2010, PDF, verfügbar , 24. August 2018.

Streit 2015: Eva Streit, Die Itten-Schule Berlin. Geschichte und Dokumente einer privaten Kunstschule neben dem Bauhaus, Berlin 2015.

Tavel 1994: Hans Christoph von Tavel, »Johannes Itten: Sein Denken, Wirken und Schaffen am Bauhaus als Gesamtkunstwerk«, in: Rolf Bothe (Hg.), Das frühe Bauhaus und Johannes Itten: Katalogbuch anläßlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen Bauhauses in Weimar, Ostfildern-Ruit 1994, S. 37–58.