Grunow in Hamburg, 1924-1933


Das Bauhaus stellte nur eine kurze Etappe im Wirken Gertrud Grunows dar. Nicht zu vergessen ist ihre mehr als 20-jährige Tätigkeit als Musikpädagogin von 1898 bis 1919, bevor sie ans Bauhaus kam. Nicht nur führte sie ihre Unterrichtspraxis noch über das Bauhaus hinaus fort. Auch erweiterte sie ihren Wirkungskreis Mitte der 1920er Jahre u.a. auf die Forschung am Psychologischen Seminar der Hamburger Universität im Bereich der Entwicklungspsychologie. Ähnlich wie am Bauhaus war Grunow hier jedoch nie fest angestellt: Im Hamburger Universitätsarchiv sind bislang keine Spuren Grunows aufgefunden worden. Zeugnisse ihres Schaffens dort existieren auch deshalb nur wenige, weil Dokumente in NS-Zeit und Krieg verschwunden sind oder zerstört wurden. Ihre enge Zusammenarbeit mit der Universität brach Grunow 1933 ab, als ihre jüdischen Kolleginnen und Kollegen das Land verlassen mussten.

Während Grunows Zeit in Hamburg war William Stern (1871–1938) Direktor des Psychologischen Seminars und gemeinsam mit Ernst Cassirer (1874–1945) Leiter des Instituts für Philosophie. Die Leitung des Psychologischen Laboratoriums hatte Heinz Werner (1890–1964) inne. Stern begann seine wissenschaftliche Karriere im Bereich der Experimentalpsychologie. Unter anderem untersuchte er Ende des 19. Jahrhunderts die »Wahrnehmung von Helligkeitsveränderungen, Bewegungen und Tonhöhenveränderungen« (Lück 2016: 106). In späteren Jahren verlor dieses Gebiet in seiner Tätigkeit allerdings an Bedeutung.

Cornelius Steckner identifiziert die durch Stern entwickelte »Personalistik« als Kern und Bindeglied verschiedener Forschungsansätze am Hamburger Institut (Steckner 1993: 358f.). Der Ausgangspunkt der »Personalistik« ist die Annahme der »Komplementarität von Person und Sache« (ebd.: 361). Sterns ›System des Kritischen Personalismus‹ ist somit durch das Zusammendenken von Person und Umwelt charakterisiert: Hier interessierte ihn das »Sich-Entfalten der Person«, wobei ihm zufolge nicht Ererbtes und Außenwelteinflüsse die Person bestimmten, sondern dem Individuum Gestaltungspotentiale in Auseinandersetzung mit der Umwelt zugesprochen wurden (Lück 2016: 111). Steckner zufolge knüpfte Sterns Kollege Werner an diesem Punkt an: Anhand der Erforschung der Synästhesie versuchte er, diese »Komplementarität von Person und Sache experimentell nachzuweisen«, wobei er sich u.a. auf Grunow bezog (Steckner 1993: 361).

Grunow selbst hatte bereits in der Bauhauspublikation von 1923 die Idee der Komplementarität in ihre Überlegungen einbezogen und betonte dabei auch den erwähnten Gestaltungsimpuls:

»Alle Wesen und Dinge außerhalb des Menschen sind Ergänzungen zu ihm, andererseits verlegt der Mensch seine Empfindungen und Erlebnisse nach außen und schaut und bildet so die Welt« (Grunow 1923: 22).

Daraus ergeben sich Verbindungen zur Diskussion des Umweltbegriffs im Rahmen der noch jungen Disziplinen der Ökologie und der Umweltpsychologie. Eine zentrale Figur war hier der seit 1925 in Hamburg ansässige Jacob von Uexküll (1864–1944). Eine wirklich enge und belegbare Zusammenarbeit erfolgte aber zwischen Grunow und Werner. 

 

Linn Burchert, Nov. 2018

 

Weiterführende Informationen sowie Auseinandersetzungen mit der Verortung Grunows  in einem breiteren kulturhistorischen Kontext können Sie kostenlosen Open-Access Publikation entnehmen:
Gertrud Grunow (1870-1944). Leben, Werk und Wirken am Bauhaus und darüber hinaus


Literaturangaben:

Grunow 1923: Gertrud Grunow, »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton«, in: Ausst.-Kat. Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, hrsg. v. Karl Nierendorf, Weimar 1923, S. 20–23 [Radrizzani 2004, S. 77–81].

Lück 2016: Helmut E. Lück, Die psychologische Hintertreppe. Die bedeutenden Psychologinnen und Psychologen in Leben und Werk, Freiburg/Basel/Wien 2016.

Steckner 1993: Cornelius Steckner, »Personalistik und Wissenschaftskritik der Hamburgischen Schule«, in: Bericht über den 28. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Trier 1992, hrsg. v. Leo Montada im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Göttingen u.a. 1993, S. 356–367.