Grunow und Lothar Schreyer


Der wohl größte Unterstützer Gertrud Grunows aus dem Kreis der Bauhaus-Meister war Lothar Schreyer. Grunows herausragende Rolle am Bauhaus beschrieb er folgendermaßen:

»Sie, die schon dem Greisenalter nahe war, mutete uns an wie eine der großen Wissenden der Vorzeit. Aus einer inneren Hellsichtigkeit waren ihr die geistigen Zusammenhänge von Farbe, Form und Ton aufgegangen, wie sie den Aufbau der lebendigen Gestalt hervorrufen. Und sie hatte die Harmonisierungsübungen erkannt und ausgearbeitet, durch die diese Zusammenhänge in jedem Menschen erweckt oder wieder hergestellt werden können. So brachte sie die Menschen innerlich und äußerlich ›ins Gleichgewicht‹. […] So war Gertrud Grunow nicht nur tatsächlich ein ›heilender‹ Mensch, sondern führte in den Übungen den Übenden in die klare Erkenntnis der ihm entsprechenden schöpferischen Gestalt. […] Ich weiß: weder die Vorlehre noch die Hauptlehre wäre ohne Gertrud Grunow mit Erfolg durchführbar gewesen, und das Bauhaus hätte ohne sie sein schöpferisches Werk nicht vollbracht.« (Schreyer 1956: 187)

In seiner Veröffentlichung Erinnerungen an Sturm und Bauhaus wird Grunow zwar immer wieder erwähnt, allerdings erhält sie – im Gegensatz zu einer Reihe anderer Personen – kein eigenes Kapitel.

 

Schreyer arbeitete seit 1916 an Farbformtonspielen und damit zusammenhängend an einem »neuen Bühnenwerk, in dem Farbe, Form, Bewegung und Ton in Kombination mit überlebensgroßen Ganzmasken eine neue theatrale Einheit bildeten« (Gruß 2017: 145). Zwischen 1919 und 1921 war er Leiter der expressionistischen Sturm-Bühne in Berlin. Beim Sturm handelte es sich nicht nur um eine seit 1915 mehrmals bzw. später einmal im Monat erscheinende Zeitschrift für Kunst und Literatur, sondern um eine Gruppierung avantgardistischer, zumeist expressionistischer Künstler um Herwarth Walden, die in Form von Ausstellungen und Theateraufführungen zusammenarbeiteten (Eichhorn/Lorenzen 2017).

 

Titelzeile Der Sturm, herausgegeben von Herwarth Walden,
Quelle: Wikicommons
© Wikicommons.

Lothar Schreyer, Kreuzigung: Spielgang Werk VII, 1920/1921, Holzdruck, aus: Werkstatt der Kampfbühne, Hamburg,
Quelle: digitalcollections   © Digital Public Library of America.


Ausgangspunkt für Schreyers Bühnenkunst war die Reduktion auf »Grundformen, Grundfarben, Grundbewegungen und Grundtöne[...]«, die komplex miteinander in Verbindung gebracht wurden (Schreyer 1917b: 38).

In mehreren 1917 in Der Sturm erschienenen Artikeln zum »Bühnenkunstwerk« stellte Schreyer seine Idee eines rhythmischen Kunstwerks dar und positionierte sich etwa gegen einen veralteten Schönheits- und Harmoniebegriff. Hier sprach er sogar von einer ›aharmonischen‹ Kunst (Schreyer 1917a: 19). Spätestens am Bauhaus und möglicherweise in der Begeisterung für den Grunow’schen Unterricht erhielt der Harmoniebegriff allerdings eine positive Umdeutung:

»Wir alle waren leidenschaftliche Theoretiker der Kunst. Wir waren überzeugt, daß es unser Auftrag sei, durch unsere künstlerische Arbeit die seit Jahrhunderten mißachtete oder vergessene Harmonielehre der bildenden Kunst wieder aufdecken zu helfen und dadurch zu einem objektiven Maß für die bildende Kunst beizutragen, wie es die Musik in Harmonielehre und Kontrapunkt längst kennt. Daher machten wir unsere Ateliers und Werkstätten auch zu kunsttheoretischen Laboratorien. Besonders Gropius (für die Baukunst), Itten, Kandinsky und ich arbeiteten konsequent auf diesem Gebiet. Wir alle danken Gertrud Grunows Lehre Entscheidendes.« (Schreyer 1956: 191)

Zentral für den Anschluss an Schreyers Ideen war, dass Grunow ihren Harmoniebegriff aus der Leiblichkeit des Menschen entwickelte und mit dem Rhythmus verknüpfte. Ihr Harmonieverständnis war nicht an ästhetische Fragen der Schönheit gebunden, sondern an anthropologische Gesetzmäßigkeiten.

 

Wesentlich erscheinen bei Grunow und Schreyer gleichermaßen außerdem das Rhythmische und das Synästhetische:

»Das Ideal [Schreyers] war eine primitive Ursprache, die die synästhetische Wirkung unterstützte und, vom Inhalt gereinigt, in Klang und Rhythmus transformiert wurde. Aus der rhythmischen Sprechmelodie und den Schwingungen des Wortklanges leitete sich der Bewegungsrhythmus jedes Spielers als eigener ›innerer Klang‹ ab und verband sich mit den Rhythmen der anderen Spieler zu einem gemeinschaftlichen Bewegungsrhythmus. Die Sprache erhielt damit in etwa die Aufgabe, die der Musik bei der Rhythmischen Gymnastik zukam.« (Gruß 2017: 146)

 

Im Zentrum von Schreyers Konzeption stand das Erleben von Farben, Formen, Klängen und Rhythmen, wobei eine Vielzahl an Instrumenten zum Einsatz kam (ebd.). Schon 1917 erläuterte Schreyer, wie Bewegungen, Einzeltöne und Tonentwicklungen mit Gefühlszuständen und -entwicklungen in Zusammenhang stehen und wie die jeweiligen »Grundfarbformen«, »Grundbewegungen« und »Grundtöne« je spezifische »Gefühlskomplexe« auslösen (Schreyer 1917b: 38). Dass Grunows Harmonisierungslehre Schreyers Ansätze bestärkte und er diese für seine Praxis fruchtbar machen konnte, liegt nahe.

 

Die eingangs zitierte Passage macht deutlich, dass Schreyer in Grunows Lehre die Voraussetzung für die schöpferische Arbeit am Bauhaus erkannte (Schreyer 1956: 187). Aus anderen Dokumenten wird zudem evident, dass sich Schreyer mit Grunow auch über Fragen zur Kunst austauschte. So hielt er in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Die Waage des St. Michaelis« ein Gespräch mit Grunow fest, das sich um Probleme der Harmonie und der Teilhabe von Kunst an der ›geistigen Wirklichkeit‹ drehte:

»Ich vermochte mit keinem der Künstlerkollegen des Bauhauses darüber zu sprechen. Entweder hätten sie mich nicht verstanden oder ich hätte sie verwirrt, wie ich selbst verwirrt war. Vielleicht hätte mich Kandinsky verstanden, und sicherlich hätte es ihn nicht verwirrt. Aber er schien mit [sic] doch als Künstler voreingenommen für die Kunst. Ich sprach daher nur mit Gertrud Grunow über meine Bedenken und Verwirrungen.« (Schreyer in Keith-Smith 2006: 21)

 

Bei den Überlieferungen durch Schreyer ist zu bedenken, dass diese oft in größerem zeitlichen Abstand entstanden sind und keineswegs Gesprächsprotokolle darstellen. Dennoch zeugen sie von seiner Wertschätzung Grunows – eine ähnliche Aussage zur Vertrauenswürdigkeit Grunows fand sich auch in den autobiographischen Schriften Johannes Ittens.

 

Die genauen Bezüge und somit auch die Relevanz Grunows für Malerei und Theater am frühen Bauhaus ist allerdings noch nicht erforscht. Hinzu kommt, dass Schreyer ebenfalls bislang nicht im Fokus der Forschung steht und ähnlich wie Grunow in der bisherigen Bauhausgeschichte – im Vergleich zum bekannter gewordenen Oskar Schlemmer (1888–1943) oder auch Paul Klee (1879–1940) – marginalisiert wurde. Inwiefern Grunow und Schreyer über das Bauhaus hinaus in Kontakt blieben, ist nicht überliefert. Offenbar hatten sie während der NS-Zeit, Ende der 1930er Jahre, Meinungsverschiedenheiten, die mit Schreyers Ideen zum ›Völkischen‹ in Zusammenhang standen. 

 

 

Linn Burchert, Nov. 2018


Literaturangaben:

Eichhorn/Lorenzen 2017: Kristin Eichhorn/Johannes S. Lorenzen (Hg.), Der Sturm und Die Aktion, Berlin 2017.

Gruß 2017: Melanie Gruß, Synästhesie als Diskurs. Eine Sehnsuchts- und Denkfigur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft, Bielefeld 2017.

Keith-Smith 2006: Brian Keith-Smith, Lothar Schreyer. Persönliches: Dokumente und Briefe, Newiston/New York 2006.

Schreyer 1917a: Lothar Schreyer, »Das Bühnenkunstwerk«, in: Der Sturm 2, 1917, S. 18–22, verfügbar unter: http://bluemountain.princeton.edu/, 26. August 2018.

Schreyer 1917b: Lothar Schreyer, »Das Bühnenkunstwerk«, in: Der Sturm 3, 1917, verfügbar unter: http://bluemountain.princeton.edu/, S. 36–40, 10. September 2018.

Schreyer 1956: Lothar Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1956.