Gertrud Grunow unterschied zwischen drei Ordnungen ihres Gleichgewichtskreises, die sich mit 1. ›Seele‹, 2. ›Körper‹ und 3. ›Geist‹ überschreiben lassen. Offenbar hatte sie in späteren Jahren eine deutliche, systematische Trennung zwischen dem Gleichgewichtskreis ›erster‹, ›zweiter‹ und ›dritter‹ Ordnung vorgenommen. Allerdings wurden diese drei Ordnungen in authentifizierten Artikeln nicht so klar differenziert und sind vor allem durch ihre Schülerin bzw. ihre direkten und indirekten Schüler Hildegard Heitmeyer, René Radrizzani, Gerhard Schunke und Erich Parnitzke überliefert.
Die folgende Zusammenfassung beruht auf Heitmeyers Erläuterungen (Heitmeyer 1936/1946) sowie einem ungedruckten Typoskript Grunows aus dem Jahr 1937 (Grunow 1937c). Zu berücksichtigen ist dabei, dass Grunow ihre Lehre bis Ende der 1930er Jahre kontinuierlich weiterentwickelte und in der Zeit am Bauhaus keineswegs abschloss. Hinzu kommt der Variantenreichtum der Übungen, von dem etwa Radrizzanis Aufzeichnungen zeugen, der die Lehre durch Heitmeyer kennenlernte (Radrizzani 2004: 25–59). Im 2009 in Kooperation mit Gabriele Fecher entstandenen Film Die Harmonisierungslehre von Gertrud Grunow kann die praktische Umsetzung der Lehre in Ansätzen ebenfalls nachvollzogen werden (Radrizzani 2009).
Im Fokus der ersten Ordnung steht die intuitive, gefühlsmäßige Empfindung von Farben und Klängen. Mit geschlossenen Augen werden Farben und Klänge empfunden und deren korrespondierende Orte im Raum aufgesucht: Daraus ergibt sich die Ordnung des Kreises, gedanklich wie eine Uhr auf dem Boden ausgebreitet. Dabei werden auch verschiedene qualitative Aspekte von Farbe – Stoff, Material und Form – innerlich vorgestellt und gefühlt:
Die Übungen erster Ordnung beinhalteten so auch das Zeichnen von Formen in die Luft, in Entsprechung zum empfundenen Ton bzw. der empfundenen Farbe. Die rein innerliche Auseinandersetzung mit imaginierten optischen und taktilen Farbqualitäten war für Grunows Arbeit am Bauhaus höchstwahrscheinlich von größter Relevanz.
Die zweite Ordnung stellt die vertikale Bewegung des Körpers in den Fokus. Hierzu gehören die ›Gleichgewichtsstellungen‹, die durch das Hören bestimmter Töne und das Sehen bestimmter Farben eingenommen werden: Im Vordergrund steht dabei die Aufrichtung des Körpers. Der Kreis ist dementsprechend analog zur Wirbelsäule in gleicher Reihenfolge wie der liegende Kreis in die Vertikale überführt.
In der dritten Ordnung wird der Kreis als Farbscheibe aus zwölf konzentrischen Kreisen zusammensetzt gedacht. Im Fokus der Übungen stehen Handlungen – bestimmte Arten des Gehens und des Greifens in der geistigen Konzentration auf bestimmte Farben – ebenso wie spezifische Haltungen. Diese sind durch Grunow nicht im Detail überliefert. Dafür listet sie verschiedene Seh- und Hörarten auf, die ebenfalls in die Übungen der dritten Ordnung gehören.
In der dritten Ordnung wurden Farben und Töne nicht nur imaginiert, sondern optisch und akustisch wahrgenommen. Nicht Gefühl und Körper allein, sondern insbesondere Geist und Bewusstsein galt es hier anzuregen und zu wecken. Diese Übungen sind somit weniger innerlich, sondern richten sich nach außen – bis hin zur Verwirklichung von Zeichnungen und Übungen in der Lautbildung.
In der engen Verbindung von Farbe, Ton, Form und Stoff, die bereits in der ersten Ordnung abgebildet ist, zeigt sich die Anschlussfähigkeit der Grunow-Lehre an das Bauhaus und die künstlerisch-handwerkliche Tätigkeit.
Linn Burchert, Nov. 2018
Bildnachweis: Farbordnungen nach Grunow, © Gabriele Fecher.
Literaturangaben:
Grunow 1967: Gertrud Grunow, »Eigene Aufzeichnungen«, in: Bildnerische Erziehung. Die Zweimonatsschrift 3, 1967, S. 17–23 [= Wiederabdruck der zwischen 1935 und 1938 veröffentlichten Artikel in Kunst und Jugend].
Grunow 1936b: Gertrud Grunow, »Farbformen«, Kunst und Jugend, August 1936b, S. 179–180 [Radrizzani 2004, S. 90–92].
Grunow 1937c: Gertrud Grunow, »Ein neuer Farbkreis«, in: Radrizzani 2004, S. 99–103 [ungedrucktes Typoskript im Umfang von 8 Seiten mit handschriftlichen Ergänzungen von Gertrud Grunow aus dem Besitz von Hildegard Heitmeyer, wahrscheinlich entstanden um 1937 = ungesichert].
Grunow 1938a: Gertrud Grunow, »Von der Farbe im Runden«, in: Kunst und Jugend, Februar 1938, S. 36–37, verfügbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunst_jugend1938/0040/image, 26. August 2018 [Radrizzani 2004, S. 104–106].
Heitmeyer 1936/1946: Hildegard Heitmeyer, »Die Forscherin Gertrud Grunow. Ihr Leben und ihre Lehre von der Erziehung der Sinne durch Farbe und Ton. Eine erläuternde Einführung«, in: Radrizzani 2004, S. 134–140 [unveröffentlichtes Typoskript, entstanden etwa 1936 und redigiert um 1946].
Radrizzani 2009: Die Harmonisierungslehre von Gertrud Grunow. Meisterin am Bauhaus 1919 –1924, ein Film von und mit René Radrizzani, 2009, verfügbar unter: https://www.gertrud-grunow.de/film-kunst-forschung/film/dokumentarfilme, 22. September 2018.
Radrizzani 2004: René Radrizzani, Die Grunow-Lehre: Die bewegende Kraft von Klang und Farbe, Wilhelmshaven 2004.