Lehrsystem und Übungspraxis


Hildegard Heitmeyer: »Sich durch innere Vorstellung ganz unter den Eindruck einer Farbe zu stellen, andererseits einen Ton ganz in uns aufzunehmen, bis er unser eigen wird und in unserm Körper klingt, und sich davon bewegen lassen, ganz frei, wie es der Körper verlangt, und wie er dann allmählich selber seine Ordnung findet, das ist das Neue, was Gertrud Grunow bringt und wodurch sie sich von allen anderen Bewegungsmethoden unterscheidet.« (Heitmeyer 1920: 929)

Gertrud Grunow spielte in ihrem Unterricht auf dem Klavier zunächst nacheinander die zwölf Töne einer Tonleiter oder zeigte die diesen Tönen entsprechenden Farben. Die Schülerinnen und Schüler sollten die Farben verinnerlichen und sie sich dann ohne optischen Reiz nur als inneres Licht vorstellen. Diese Gleichsetzung von Farbe und Licht, die mit der Auffassung von Farbe als »lebendige[r] Kraft« einherging, war grundlegend für die Lehre (Herv. i.O., Grunow 1923: 20).

Jeder Ton und jede Farbe rufen Grunow zufolge eine spezifische Haltung und damit eine bestimmte Bewegung sowie eine Körperspannung hervor, aus der sich in den Übungen ein Bewegungsrhythmus, ein Changieren zwischen Lockerung und Anspannung, Beugung und Aufrichtung sowie verschiedene Arten der Atmung ergeben. Die Schülerinnen und Schüler wurden somit zur Empfindung von Körperspannung und Schwerkraft aufgefordert. Bei Ton- und Farbwechseln galt es, einen neuen Ort im Raum aufzusuchen – eben jenen, welcher dem Ton bzw. der Farbe entsprach. Der Bewegungsablauf vollzog sich als Zyklus kreisförmig und in der Drehung um die eigene Achse. Hinzu kamen verschiedene Gangarten sowie Arm- und Greifbewegungen (Radrizzani 2004: 53f.). So erinnert sich der Jenaer Verleger Eugen Diederichs an eine Stunde:

»Da steht ein Jüngling, und mit Nachdruck stößt er Arm um Arm in die Luft, als wolle er Ziegel auf den Bau reichen, während seine Füße in einer Art Tanzrhythmus über den Boden schlürfen. […] Man ist als Zuschauer ganz erstaunt über die ausdrucksvolle Gebärdensprache der Hände bei den Mädchen, dieses sehnsüchtige Suchen im begleitenden Rhythmus des Körpers.« (Diederichs 1920: 137)

Der Nachvollzug des Farbkreisverlaufes sollte von Weiß zu Gelb von einer gebeugten Haltung über eine lockere Aufrichtung zu einer erhöhten Körperspannung führen. Ein größeres Bild ergibt sich aus einzelnen Artikeln der 1930er Jahre, in denen Grunow die Bewegungssequenzen und die damit einhergehenden psychischen Zustände beschrieb:

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Tabelle: Zuordnungen Farbe/Ton zu Haltung, Gefühl und Körperakzenten
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Die Aufstellung ist in einigen Punkten überraschend: Es werden in der Übung sowohl positive als auch negative Gefühle durchlaufen, entsprechend wird der Körper unterschiedlich stark angespannt. Es erfolgt, hält man sich an die zirkuläre Reihenfolge, eine allmähliche Aufrichtung des Körpers, die mit spezifischen Fuß-, Arm- und Handbewegungen sowie -stellungen einhergeht. Den Endpunkt bildet eine aufrechte Haltung in stärkster Anspannung. Ihr zugeordnet sind zwei divergierende Gefühle – Neid und Besonnenheit. Die Dramaturgie ist nicht unmittelbar schlüssig: Warum etwa auf Trauer (Grau) ein religiöses Gefühl von Glauben, Demut und Treue (Blauviolett) und dann Angstgefühle (Braun) folgen, irritiert.

Grunows Assistentin Heitmeyer weist darauf hin, wie sich im Rahmen der Übungen beispielsweise »Selbstsucht, Haß, Neid, Eifersucht« verwandeln ließen »durch die gesteigerte seelische Kraft in Entsagung« (Heitmeyer 1936–46: 139). Grunows Schüler Gerhard Schunke fasste dieses Prinzip später unter dem Begriff der »Auflichtung« (Schunke 1953a [?]). Grunows Ansatz besteht Heitmeyer und Schunke zufolge darin, ihre Schülerinnen und Schüler negative Gefühle durchleben zu lassen, damit sie diese in positive Gefühle umzuwandeln lernen. Die Übungssequenzen bildeten somit ein wahres ›Wechselbad der Gefühle‹, das die Voraussetzung für den angestrebten Gleichgewichtszustand darstellte. Der Kreis wurde anschließend noch einmal umgekehrt durchlaufen, etwa von Gelb nach Weiß (vgl. Radrizzani 2004: 26). Anhand von Radrizzanis Berichten aus dem durch Heitmeyer vermittelten Grunow-Unterricht wird deutlich, dass die Reihenfolge der Farben und auch der Töne je nach Übung und Individuum mitunter stark abgewandelt wurde (ebd.: 26–59).

Auch wenn Variationen in der Reihenfolge üblich waren, stellt sich die Frage, nach welchen Prinzipien die Farben geordnet und ausgewählt sind. Naheliegend wäre etwa eine Hell-Dunkel-Dramaturgie, die sich – ebenso wie andere Varianten von Farbsystemen – aber nicht finden lässt. Die im Kreis aufeinanderfolgenden Stellungen sind mal von körperlicher Weitung, mal von Einengung geprägt. Den positiven Höhepunkt bilden die mittleren Farben Grünblau und Grün, die eine physisch lockere und psychisch geistige Erhebung markieren.

 

Aus dem Unterricht sind drei Photographien überliefert, die Heitmeyer bei den Übungen zeigen: Auffallend ist hier nicht nur der unruhige Hintergrund – eine ornamental dekorierte Stellwand und ein ebenso ornamentaler Teppich –, auch die hochhackigen Schuhe Heitmeyers überraschen. Auf einer der Photographien nimmt Heitmeyer eine recht ausladende, dynamisch wirkende Körperhaltung ein. Aus seitlicher Perspektive aufgenommen erscheinen ihre Beine in großem Abstand zueinander positioniert, wobei der Schwerpunkt auf dem rechten Bein liegt, während das linke Bein leicht angewinkelt zum Schritt ausholt. Ihre Arme sind seitlich ausgebreitet, die linke Hand wohl an Daumen und Zeigefinger zusammengeführt, die rechte befindet sich in einer Art Greifbewegung. Der ganzen Haltung liegt etwas Tänzerisches inne. Im Gegensatz dazu steht eine andere Photographie, in der Heitmeyer auf einem Stuhl sitzend den rechten Arm von sich wegstreckt, während der linke Arm zur rechten Armbeuge geführt ist. Dieser Haltung liegen mehr Spannung und Statik inne. Eben in dieser Zusammenführung von Statik und Dynamik lag das Wesen der Grunow’schen Lehre.

  

Abbildungen: Heitmeyer beim Grunow-Unterricht, 1917 oder 1922,  Reproduktion, ca. 1968, 11 × 8,5 cm, Silbergelantinepapier, Copyright unbekannt, © Bauhaus-Archiv Berlin, Inv.-nr. F6580/3.


Mit Blick auf die Bewegungspraxis war für Grunow die Rhythmisierung des Körpers zentral: Das »rhythmisierende Wesen der Bewegung« wirke »harmonisierend, hebend und belebend« (Grunow 1920: 71). Mit dem Wechsel der Farbe sollte ein neuer Ort im Raum aufgesucht werden. Der Wechsel von einer Haltung zur nächsten ging dabei nicht nur mit einem Ortswechsel, sondern auch mit einem geänderten Atem einher: Beim Heben der Arme erfolgte etwa eine tiefe Einatmung, beim Senken der Arme die Ausatmung (Grunow 1937a: 95). Den Farben waren außerdem bestimmte Körperpartien zugeordnet, die Heitmeyer als »Brennpunkte« bezeichnete, sodass nacheinander verschiedene Körperteile aktiviert und empfunden wurden (Heitmeyer 1920: 930).

Die seelischen und körperlichen Impulse, die ein spezifischer Ton oder eine spezifische Farbe auslösten, sind zwar gemäß Grunow bei allen Menschen gleich, allerdings mussten erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, diese Impulse zu empfinden und wirksam werden zu lassen. Auf Basis der Durchführung der Übungen urteilte Grunow über die persönlichen Dispositionen ihrer Schülerinnen und Schüler (Wahl 2001: 167–169, 300–302; vgl. Burchert 2019a). An körperlichen wie psychischen Störungen und Hemmungen wurde ausgehend davon fortan gearbeitet. Diederichs erinnert sich etwa, dass in den Übungsstunden deutlich...

»der gehemmte Intellektualist von dem strömenden naiven Menschen zu unterscheiden [ist], deutlich die Wesensart der Frau von der des Mannes. Wie ein Unerlöster hält da ein Intellektualist die Hände vor die Augen und bewegt sich schlürfenden Schrittes, während der gelöste Mensch sich in steter rhythmischer Bewegung von Händen und Beinen befindet.« (Diederichs 1920: 136)

Dabei stellte Diederichs fest, dass die Männer »stoßende Bewegungen, nach oben gerichtet«, die Frauen aber »hüllende Bewegungen zur Erde« vollzogen (ebd.: 136f.). Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern charakterisierte Grunow selbst folgendermaßen:

»Bei männlichen Personen findet man eine strengere, geschlossene Erfassung der Aufgabe und ein dementsprechendes Gefühlsempfinden. Die Frau dagegen zeigt sich, ihrer Natur gemäß, in den tiefsten Schichten geöffneter. Dem Manne, der in strengerer Form, seiner Natur nach, die Gefühlsempfindung in höheren Schichten hält, steht hier der Frau gegenüber, welche in natürlich-tiefer Art vom Gefühlsleben erfaßt wird. Die menschliche Natur gibt jedoch auch dem Manne die Möglichkeit, in der Gefühlsempfindung bis in die Tiefe zu reichen und andrerseits vermag die Frau die strengere Haltung des Mannes anzunehmen. Die Physiognomie, in welcher sich das Gefühl widerspiegelt, sowie die Gebärde, welche es geistig-körperlich ausdrückt, tragen bei allen Menschen den gleichen Grundcharakter, sind aber verschieden in ihrer Art, je nach dem Individuum und der Disposition derselben.« (Grunow 1936c: 92)

Die Schülerinnen und Schüler kamen mit unterschiedlichen Voraussetzungen – besonderen Fähigkeiten, Problemen und Hemmungen – zu Grunow. Diese hielt sie mitunter für geschlechtsspezifisch und arbeitete individuell daran. Am Ende der Übungspraxis sollte ein seelisch-körperlich-geistiges Gleichgewicht stehen, das insbesondere auch zur eigenen schöpferischen Tätigkeit befähigen sollte. Der Variantenreichtum der verschiedenen Übungen sowie das Zusammendenken von Seele, Körper und Geist bildet sich in der Differenzierung der drei Ordnungen des Kreises ab. 

 

Linn Burchert, Nov. 2018


Literaturangaben:

Burchert 2019a: Linn Burchert, »The Spiritual Enhancement of the Body: Johannes Itten, Gertrud Grunow, and Mazdaznan at the Early Bauhaus«, in: Elizabeth Otto/Patrick Roessler (Hg.), Bauhaus Bodies: Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, London 2019 (in Vorbereitung der Drucklegung).

Diederichs 1920: Eugen Diederichs, »Unterbewußtsein und Form«, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur 2, Mai 1920, S. 126–137.

Heitmeyer 1920: Hildegard Heitmeyer, »Ordnung durch Farbe und Klang«, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur 11, März 1920, S. 929–932.

Grunow 1967: Gertrud Grunow, »Eigene Aufzeichnungen«, in: Bildnerische Erziehung. Die Zweimonatsschrift 3, 1967, S. 17–23 [= Wiederabdruck der zwischen 1935 und 1938 veröffentlichten Artikel in Kunst und Jugend].

Grunow 1938a: Gertrud Grunow, »Von der Farbe im Runden«, in: Kunst und Jugend, Februar 1938, S. 36–37, verfügbar unter: digi.ub.heidelberg.de, 26. August 2018 [Radrizzani 2004, S. 104–106].

Grunow 1937b: Gertrud Grunow, »Farben und klingender Ton und Statiken«, in: Radrizzani 2004, S. 97–98 [ungedrucktes Typoskript im Umfang von 3 Seiten mit handschriftlichen Ergänzungen von Gertrud Grunow aus dem Besitz von Hildegard Heitmeyer, wahrscheinlich entstanden um 1937 = ungesichert].

Grunow 1937a: Gertrud Grunow, »Eine neue Auffassung des Wesens der Farbe in ihrer psychisch-physischen Wirkung auf den Gesamtorganismus«, in: Radrizzani 2004, S. 94–96 [ungedrucktes Typoskript im Umfang von 5 Seiten aus dem Besitz von Hildegard Heitmeyer mit handschriftlichen Zusätzen von Gertrud Grunow um 1937a].

Grunow 1936c: Gertrud Grunow, »Psyche«, in: Radrizzani 2004, S. 92–93 [ungedruckt und unabgeschlossen in der Handschrift von Hildegard Heitmeyer, Umfang von 5 Seiten, Abschrift eines Aufsatzes von Gertrud Grunow aus dem Jahr 1936].

Grunow 1923: »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton«, in: Ausst.-Kat. Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, hrsg. v. Karl Nierendorf, Weimar 1923, S. 20–23 [in: Radrizzani 2004, S. 77–81].

Grunow 1920: Gertrud Grunow, »Bericht an das Kurhaus ›Waldesheim‹ Düsseldorf-Grafenheim 1920«, in: Radrizzani 2004, S. 70–76 [zu Lebzeiten unveröffentlichtes Typoskript im Umfang von 12 Seiten, redigiert und abgedruckt].

Preiß 2001: Achim Preiß (Hg.), Gertrud Grunow: Der Gleichgewichtskreis. Ein Bauhaus Dokument, Weimar 2001.

Radrizzani 2004: René Radrizzani, Die Grunow-Lehre: Die bewegende Kraft von Klang und Farbe, Wilhelmshaven 2004.

Schunke 1953a [?]: Gerhard Schunke, »Heilmittel der heliotropische [sic] Farb-Licht-Medizin«, Broschüre, Appenzell Ausserrhoden 1953 [?].

Wahl 2001: Volker Wahl (Hg.), Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 bis 1925, bearbeitet v. Ute Ackermann, Weimar 2001.