Ausgehend von ihrer Tätigkeit als Musikpädagogin entwickelte Gertrud Grunow in den 1910er Jahren den sog. ›Gleichgewichtskreis‹, welcher als Grundlage für eine Reihe an Übungen diente. Dieser Gleichgewichtskreis konstituiert sich auf einer ersten Ebene aus zwei zusammenhängenden Kreisen: Der erste umfasst die zwölf Töne einer Tonleiter von c bis h. Jedem Ton ordnete sie eine bestimmte Farbe zu, woraus sich, zweitens, ein Farbkreis ergab, der die Farben Weiß, Terrakotta (Gelbrot), Blau, Rotviolett, Grünblau, Grün, Silber, Rot, Grau, Blauviolett, Braun und Gelb umfasst.
Weiterhin unterschied Grunow auf einer zweiten Ebene drei Unterordnungen des Kreises. Das System an Kreisen und Ordnungen entsprach ihr zufolge dem »Aufbau der gesamten realen Welt, wie er sich vom menschlichen Organismus und vom menschlichen Geiste aus biologisch-historisch entwickelt« habe (Herv. i.O., Grunow 1923: 20). Grunow ging davon aus, dass allen Menschen diese Ordnung inne liege und wollte durch ihren Unterricht den verlorenen Zugang zu dieser wiederherstellen.
Farbkreis nach Gertrud Grunow, © Gabriele Fecher.
Ein übergeordnetes Ziel Grunows war es, auf eine Reduktion der körperlichen und psychischen Festigkeit und Enge ihrer Schülerinnen und Schüler hinzuwirken. Dies wird insbesondere in den Evaluationen ihrer Kursteilnehmenden am Bauhaus deutlich, die sie schriftlich an den Meister- bzw. den Bauhausrat richtete (Wahl 2001: 167–169, 300–302; vgl. Burchert 2019a): Erhöhte körperliche wie auch seelisch-geistige Lockerung und Beweglichkeit sollten durch ihre Übungen erreicht werden. Im Vordergrund stand die (Wieder-)Herstellung eines psychophysischen Gleichgewichtes, das der vielfach beklagten Unausgeglichenheit und Nervosität der Schülerinnen und Schüler und der modernen Gesellschaft überhaupt entgegengesetzt wurde.
Zentral für den Erfolg des Unterrichts war es, dass die Schülerinnen und Schüler lernten, Reflexion und Intellekt auszuschalten und in eine Art vorbewussten Zustand einzutreten, der für die Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Seele und des Geistes sensibilisiert.
Der Literaturwissenschaftler René Radrizzani (*1930), der sich theoretisch und praktisch mit Grunows Lehre auseinandersetzte, weist darauf hin, dass das Lehrsystem Grunows den Schülerinnen und Schülern nicht bekannt sein durfte, um so ihre Wirkung zu gewährleisten (Radrizzani 2004: 25), denn schließlich – so Grunow selbst – sollte die »Farbordnung […] unbewußt selbsttätig von jedem gefunden« werden (Herv. i.O., Grunow 1923: 20).
Linn Burchert, Nov. 2018
Literaturangaben:
Burchert 2019a: Linn Burchert, »The Spiritual Enhancement of the Body: Johannes Itten, Gertrud Grunow, and Mazdaznan at the Early Bauhaus«, in: Elizabeth Otto/Patrick Roessler (Hg.), Bauhaus Bodies: Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, London 2019 (in Vorbereitung der Drucklegung).
Grunow 1923: »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton«, in: Ausst.-Kat. Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, hrsg. v. Karl Nierendorf, Weimar 1923, S. 20–23 [Radrizzani 2004, S. 77–81].
Radrizzani 2004: René Radrizzani, Die Grunow-Lehre: Die bewegende Kraft von Klang und Farbe, Wilhelmshaven 2004.
Wahl 2001: Volker Wahl (Hg.), Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 bis 1925, bearbeitet v. Ute Ackermann, Weimar 2001.